Traditionen soll man pflegen. Und in etwaiger Ermangelung solcher, ist wenig dagegen einzuwenden, neue zu begründen. Geschichten über italienische Sportwagen bei einem starken Espresso zu schreiben etwa ist so ein Beispiel einer persönlichen, modernen Tradition. Heute ist es wieder einmal so weit. Nach einer langen, harten Woche lasse ich den guten Nero D’Avola an diesem frühen Freitagabend noch ein paar Stunden im Weinregal reifen – wer weiß, vielleicht gewinnt der Rote so noch an entscheidender Samtigkeit. Gegen die aufkeimende Müdigkeit ist ein frischer Espresso die wohl bessere Option. „Bello e impossibile“ von der unvergessenen Gianni Nannini auf den Ohren, muss ich an den fast vergessenen Lamborghini Bravo denken, eine spektakuläre Design-Studie, die es trotz jahrelanger Entwicklungsarbeit nie in die Serie schaffte. Das kann kein Zufall sein, denke ich mir, klappe das MacBook auf und beginne zu tippen.
Sofort habe ich dieses Bild im Kopf: Ein giftgrüner Donnerkeil mit kachelartigen Lufteinlässen und einer dahinter drapierten blonden Schönheit im aufreizend geschnittenen weißen Hauch von nichts mit ansteckend guter Laune. – Das Cover eines großformatigen Bildbands, der um 2012 in meinen Besitz gelangte. In „70s Concept Cars“ zeigt der Kult-Fotograf Rainer W. Schlegelmilch italienische Konzeptfahrzeuge aus den 1970er Jahren – stets garniert von zeitgenössischen weiblichen Schönheiten. Genauso zeitgenössisch: Die überwiegend keilförmigen Sportwagen-Studien, gezeichnet von legendären Designstudios wie Pininfarina.
Aus der Feder der stilsicheren Designer von Bertone, damals noch bekannt als Carrozzeria Bertone, stammt dieser giftgrüne Donnerkeil aus meinen Erinnerungen, der 1974 auf dem Turiner Salon präsentierte Lamborghini Bravo. Entworfen von einem gewissen Marcello Gandini, der bereits den unnachahmlich schönen Lamborghini Miura auf sein Zeichenbrett zauberte – 1966 im Alter von 27 Jahren!
Ein Donnerkeil wie ein Kantstück
Ein paar Jahre später hatte der Italiener die Aufgabe, einen Lamborghini zu entwerfen, der unterhalb des viersitzigen Lamborghini Urraco positioniert werden und diesen möglicherweise ersetzen sollte. Technisch basierte der Bravo auf dem großen Bruder, durfte jedoch radikaler und 50 cm kürzer sein und wies deshalb sowohl einen kürzeren Radstand und nur zwei Sitze auf. Auf dem Turiner Salon begeisterte der extrem kompakte Sportwagen mit seinen knackigen Abmessungen (keine 3,8 Meter lang, dafür ziemlich genau einen Meter hoch), breiter Spur und seinem vom Lamborghini Countach inspirierten Design, zusammen mit außergewöhnlichen Details. Darunter die gekachelte Front und Motorhaube sowie die hinteren, ellipsenartigen Radläufe. Ein Donnerkeil wie ein Kantstück.
Mit der Entwicklung hin zur Serienfertigung ließen sie sich Zeit in Sant’Agata Bolognese. Ein deutscher Journalist schrieb 1977 in der inzwischen eingestellten Zeitschrift „Rally Racing“: „Der Bravo ist kein grob zusammengebauter Prototyp, sondern ein fertiges Auto. Kein ganz leises – besonders außen: Bellende Geräusche überlagern gelegentlich das sonore Auspuff-Brummen und machen die Umwelt aufmerksam.“ Für die Soundkulisse ursächlich: Ein 3,0-Liter V8 – selbstverständlich in Mittelmotorbauweise angeordnet – der mit 250 bis 300 PS die Hinterachse antrieb. Für die Serienversion hatten die Italiener andere Pläne: Der kleine Bravo hätte gar einen Zwölfzylinder-Motor erhalten sollen.
Der gleichermaßen streitbare wie leidenschaftliche Motorjournalist Wilhelm Hahne, vor 40 Jahren zusammen mit seinem Bruder Hubert der erste Generalimporteur von Lamborghini für Deutschland, konnte den Sportwagen 1975 fahren: „Ich bin damals den Lamborghini Bravo gefahren und habe schon beim Ein- und Ausstieg seine Winzigkeit schmerzhaft zu spüren gekommen. Ich hätte schon die Beweglichkeit eines Kunstturners haben müssen, um nicht bei diesen Gelegenheiten mit dem Kopf anzustoßen. (…) Tatsächlich war die Sitzposition fast liegend“. Der erfahrene Wilhelm Hahne konnte nur ein Fazit formulieren: Der Lamborghini Bravo sei ein „Auto wie ein Motorrad“.
Der Lamborghini Bravo wanderte in die Bertone-Sammlung
Ein Jammer, für Hahne und uns alle: Der Lamborghini Bravo ging nie in die Serienproduktion. Das Projekt wurde wegen finanzieller Probleme bei Lamborghini und der sich anbahnenden Ölkrise zu den Akten gelegt, der Bravo wanderte in die Bertone-Sammlung. Für Wilhelm Hahne gibt es keine zwei Meinungen: „Er ist wahrscheinlich der schönste und überzeugendste Sportwagenentwurf, der niemals in Serie gehen durfte.“
Damit hatte sich Hahne offenbar nicht allzu weit aus dem Fenster gelehnt: 2011 wurde der Lamborghini Bravo vom Auktionshaus RM Sotheby´s versteigert – und übertraf dabei so ziemlich alle Erwartungen. Für 588.000 Euro wechselte der Bravo beim Concorso d’Eleganza Villa d’Este den Besitzer. Nicht schlecht für ein beinahe vergessenes Automobil.