Alcantara, der Stoff aus dem automobile Interieur-Träume gemacht sind. Der auf Kunststoffen basierende, besonders edle Hightech-Stoff wird seit 1974 exklusiv in einem italienischen Werk der Alcantara S.p.A. produziert. Allzu tief lässt sich das Unternehmen mit Hauptsitz in Mailand deshalb nicht in die Karten schauen. Normalerweise. Jetzt machte Alcantara-Chef Andrea Boragno eine Ausnahme und öffnete sogar die streng bewachten Tore der Produktion in Nera Montoro bei Ternin, nördlich von Rom.
Andrea Boragno ist eine eindrucksvolle Gestalt: Groß gewachsen, kräftig, Bart. Wir treffen uns am Abend und genießen einen wunderbaren Blick auf das umbrische Städtchen San Gemini. Beim Essen plaudern wir über die Bedeutung des Automotive-Geschäfts, die für Alcantara immer wichtiger werdende Modebranche und allgemein über die starke Marke, die das gerade einmal 430 Mitarbeiter zählende Unternehmen in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hat. Andrea Boragno verrät im Laufe des Gesprächs: „Es geht darum, klassisches Handwerk und Massenproduktion zu vereinen. Und genau das haben wir mit Alcantara geschafft. Wir sind führend, was Funktionalität und Qualität angeht. Aber das ist nicht alles. Beinahe noch wichtiger sind die Schönheit und die Emotion unserer Produkte!“
Am nächsten Morgen kann ich mir dazu ein eigenes Bild machen – es geht ins Allerheiligste von Alcantara: in die Produktion. 85 Kilometer nördlich von Rom in der Nähe der umbrischen Stadt Terni befindet sich das Alcantara-Werk – etwas versteckt am Ende einer schmucklosen und wenig einladenden Straße. Ich rolle auf das zwar hermetisch abgeriegelte, aber unscheinbare Firmengelände. Wo ist die Manufaktur, wo die stolzen, tapferen italienischen Schneiderlein? Die Antwort ist zunächst ernüchternd: die gibt es nicht. Gab es auch nie. Warum dem so ist, dürfte bereits ein Blick auf die Ausgangsstoffe klären. Denn Alcantara ist ein Hightech-Material aus Polyester und Polyurethan und wird in einem wirklich extrem aufwändigen und zeitintensiven, hochindustriellen Prozess hergestellt. Die Produktion erschlägt dich regelrecht: in einem Dreischicht-Betrieb werden die beiden Stoffe zunächst durch Strangpressen unter hohem Druck und bei hoher Hitze miteinander vermischt und zu einem dünnen Faden geformt. In weiteren, rund 30 verschiedene Maschinen beinhaltenden Verfahren werden die Fasern mal aufgekratzt, mal gepresst, zwischendurch wieder mit Häkchen aufgerissen, mit Klebstoff verbunden und abschließend von vier (!) Maschinen gebürstet. Das Ergebnis ist ein edler Stoff, der kaum günstiger als Leder ist, allerdings leichter, atmungsaktiver und pflegeleichter sein soll.
Entwickelt wurde dieser Stoff 1970 von Miyoshi Okamoto von der japanischen Toray Industries. Ziel war es, ein Textil zu entwickeln, das so gut war, das stets knappe Leder zu ersetzen. EIn paar Jahre später sicherten sich die Italiener die exklusive Lizenz: Der Mikrofaserstoff wird seit 1974 ausschließlich von der Alcantara S.p.A. produziert. Heute kommt Alcantara vor allem in der Fashion-Industrie und im Automobilbereich zum Einsatz – etwa als Lenkradbezug oder als Stoff für Autositze.
„Wir sind führend, was Funktionalität und Qualität angeht. Beinahe noch wichtiger aber sind die Schönheit und Emotion unserer Produkte.“
Roberto Boragno
Einen Espresso später stehe ich im Research & Development-Center von Alcantara S.p.A. Abteilungsleiter Roberto Puoti ist ein angenehmer und kompetenter Zeitgenosse. Roberto lässt es sich nicht nehmen, mir Forschung und Anwendungsentwicklung von Alcantara vorzustellen. Besonders stolz sind seine Techniker auf ihren 200.000 Euro teuren Industrieroboter von Kuka. Der arbeitet quasi Tag und Nacht und unterzieht mit Alcantara bezogene Autositze anstrengende Dauertests. Wenige Meter weiter arbeiten noch mehr Apparate, die Alcantara-Stoffproben an den Kragen wollen. Die Stoffe müssen eine stundenlange Prozedur über sich ergehen lassen, bei der ihre Oberflächen von verschiedenen Werkstoffen unter hohem Druck gerieben werden. Die Alcantara-Entwickler sind offenbar recht kreativ, wenn es darum geht, ihren edlen Stoff zu strapazieren und zu quälen – natürlich alles im Dienste der Forschung. Denn nur wenn man weiß, wie sich Stoffe unter höchsten Belastungen verhalten, kann man sie optimieren, weiß Roberto zu berichten. Einleuchtend.
Um die Ecke arbeitet eine in einen steril-weißen Kittel gekleidete Technikerin vor mehreren Hochleistungsmikroskopen. Roberto erzählt, dass hier sowohl die eigenen Stoffe als auch die der Wettbewerber durchleuchtet werden. Eine Aussage Robertos dokumentiert, wie dieses italienische Unternehmen tickt: “Wenn wir registrieren, dass Wettbewerber ein Material um einen bestimmten Grad verbessert haben, ist es unser Anspruch, den ursprünglichen Qualitätsvorsprung in einem bestimmten Zeitfenster wieder herzustellen oder auszubauen”. Der hohe eigene Anspruch und der hohe Aufwand, den Alcantara investiert, um Benchmark zu bleiben, ist überall greifbar.
Die Früchte dieser Arbeit erlebe ich dann im Showroom. Hier zeigt Alcantara nicht nur die verschiedenen Produkte und Referenzen, die die Italiener mit verschiedenen Größen der Fashion-, Design- und Consumer Electronics-Branche realisiert haben. Hier lassen sich auch verschiedenste Arbeitsproben aus dem Automotive-Bereich sehen und ertasten. Die Range reicht von Stoffproben, die in verschiedenen Lancia- und Alfa Romeo-Modellen eingesetzt wurden über Proben aus der Ducati Monster bis hin zu Elementen aus Sportwagen wie dem Lamborghini Gallardo LP 570-4 Superleggera oder dem BMW Z4.
Wie war das noch mit dem Geschäftsgeheimnis, das mir Signore Boragno am Vorabend verraten hatte? Der ehrgeizige Anspruch, klassisches Handwerk und Massenproduktion zu vereinen und gleichzeitig Schönheit und Emotion zu vermitteln – hier in der Nähe von Terni wird er tatsächlich greifbar.
Der Artikel wurde erstmals 2014 veröffentlicht.
[Bilder: Moritz Nolte, Alcantara, Porsche]